Die Seele altert nicht

Die Seele altert nicht

Vor vielen Jahren fragte mich ein Zweitklässler das Folgende:

„Ich bin jetzt in der 2. Klasse, also kein Erstklässler mehr, also nicht mehr der Jüngste an meiner Schule. Ich fühle mich aber nicht anders als bisher. Wenn ich in der 4. Klasse sein werde und weiß, dass ich der Älteste bin, fühle ich mich dann immer noch genau so, wie in der 1. Klasse?“

Ich erinnere mich, dass ich sehr beeindruckt war. Die Frage hatte philosophische Tiefe. Sie führt zwangsläufig zu der Frage: wie ist meine Außenreputation im Verhältnis zu meiner Selbstwahrnehmung? Also wie jung / alt, stark / schwach / kompetent / überfordert fühle ich mich und was denkt meine Umwelt über mich?

Wenige Jahre später wurde ich Adressatin einer ähnlichen Bemerkung.

Edith Kraus, 95 jährige international gefeierte Pianistin, bemerkte vor einem Empfang ihr zu Ehren:

„Ich weiß, dass ich die Älteste bin, aber ich fühle mich immer gleich jugendlich!“

Die Seele altert nicht

Hidegard von Bingen machte diese Feststellung in „Das Buch der göttlichen Werke“.

Sie meinte nicht das „Innere Kind“ oder das „junge Ich“. Jenen Persönlichkeitsanteil in uns, der sich speist aus individuell und tatsächlich im Gehirn gespeicherten Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen der eigenen Kindheit. Diese Persönlichkeitsanteile fordern ihr Recht und sind hilfreich in therapeutischen Verfahren, wie der systemischen Teilearbeit. (Hinweis Blog)

Sie meinte, dass wir uns innerlich jünger fühlen, als wir sind. Wir nehmen wahr, dass die Anderen altern. Und wir finden Menschen entweder alt oder jung aus unserer jeweiligen Perspektive, ohne uns selbst dabei verändert zu fühlen. 

Man feiert einen runden Geburtstag, kann es nicht fassen, dass es jetzt so weit ist, weil man sich ja noch gar nicht so fühlt, und 10 Jahre später vielleicht staunt, wie jung man war, und eventuell sogar bedauert, dass damals nicht gewusst und entsprechend wertgeschätzt zu haben.

Man ist so alt wie man sich fühlt

kommt der Sache vielleicht am nächsten. Dabei bleibt es spannend, dass es Menschen gibt, die sich auch deshalb weniger zutrauen. Die überrascht sind, wenn Sie zugetragen bekommen, wie stark und mächtig ihre Außenwirkung ist, wo sie doch selbst empfinden:

Ich bin so klein, mein Herz ist rein.

Die aufgefordert werden, eine öffentliche Person zu sein, und die, wenn sie sich das zutrauen, feststellen, dass sie mit ihren Aufgaben wachsen, aber nicht unbedingt altern.

Auch erwähnen möchte ich die, die mit sich im Reinen ihr Alter genießen und sehr genau spüren und wissen, was sie sich noch zutrauen können. Die sich also zumindest offensichtlich älter fühlen, als jene, die so tun, als seien sie ewig jung, die ihren Lebensstil ihrem Alter nicht anpassen mögen und sich über auftretende altersbedingte Defizite ärgern.

Der Zauber liegt wie so häufig in der Kombination von Beidem: den realistischen Blick auf das eigene Alter und die eigenen Fähigkeiten zu behalten, bei gleichzeitigem Gewahrsein, dass ein Teil von uns nicht altert. Das hilft uns, sowohl neugierig, als auch verletzlich zu bleiben.